Boccaccio und die Novelle

Boccaccio und die Novelle
Boccaccio und die Novelle
 
Nach Dante und Petrarca ist Giovanni Boccaccio der dritte große Autor des »Trecento« (14. Jahrhundert), dessen Name durch die Jahrhunderte hin seinen Glanz behielt. Von den einen wird er als Humanist hochgeschätzt, von den anderen, den meisten gewiss, als wunderbarer Erzähler geliebt. Schon früh las er Ovid und Dante, denn er fühlte sich, wie er später schrieb, »vom Mutterleib an für die Dichtung bestimmt«. Als er 1327 nach Neapel gelangte, nutzte er die Zeit, um seine literarischen Kenntnisse auszuweiten. Er erfuhr von der Bedeutung der griechischen Literatur, studierte die römische und mittellateinische, vor allem aber auch die volkssprachlichen Literaturen Nord- und Südfrankreichs und die seines eigenen Landes. Er hörte zum ersten Mal von Petrarca, der sein verehrtes Vorbild und sein Freund wurde, erlebte die Festlichkeiten des Hofes und nahm im Gewusel der neapolitanischen Gassen und Plätze an Seemannsgarn und Kaufmannsgeschichten teil, hörte Spielmannsepik und Bänkelgesang. Hier begann er zu schreiben, zumeist mittelalterlich höfisch und gelehrt, manchmal auch schon in jener erzähl- und sinnenfreudigen Art, die auf sein »Decamerone« vorausweist.
 
Wieder in das zunächst ungeliebte, später doch so gepriesene Florenz zurückgekehrt, machte er sich nach und nach mit der ganz anderen Kultur der Stadt vertraut und nahm seine literarischen und philologischen Arbeiten wieder auf. Alle Hoffnungen jedoch, die sich hieran und an seine beginnende diplomatische Tätigkeit knüpften, machte die schwarze Pest zunichte, die in Florenz im Frühjahr 1348 Einzug hielt und die Hälfte der Stadtbevölkerung dahinraffte. Der Dichter, vom Tod von Freunden und Familienangehörigen selbst tief betroffen, verwandelte mit ungeheurer schöpferischer Energie das historische Grauen in ein wesentliches Element des Rahmens, der die hundert Novellen des 1348 bis 1353 entstandenen »Decamerone« umschließt.
 
Nachdem der Autor mitgeteilt hat, dass er sein Buch jenen »holden Frauen« zur Erheiterung und Belehrung widme, deren Freiheit Eltern, Brüder oder Gatten einschränken, beginnt er das »Decamerone« mit einer Beschreibung der Auswirkungen der Pest in Florenz. Eine ihrer Folgen war die Stadtflucht vieler Menschen, und so ergibt sich ganz schlüssig, dass die sieben jungen Frauen und die drei jungen Männer, die sich eines Tages in der Kirche Santa Maria Novella treffen, beschließen, für vierzehn Tage aufs Land zu ziehen, um der verseuchten Stadt zu entkommen. Die kleine Gemeinschaft, die »Brigata«, gibt sich dazu feste Regeln: Freitags und samstags wird nicht erzählt, für die Gestaltung der übrigen zehn Tage, an denen jeder eine Novelle vortragen soll, ist jeweils eines ihrer Mitglieder verantwortlich. So werden die Tage thematisch gegliedert: in Geschichten, die jeder erzählen mag, in solche, die von glücklichem Entrinnen aus großer Gefahr oder von der Erfüllung sehnlicher Wünsche berichten, von trauriger und heiterer Liebe, von Gewitztheit, List und zwischenmenschlichem Schabernack, von Großmut und edlem Verhalten. Auf diese Weise entsteht der Kranz von einhundert Novellen, in die Boccaccio die Früchte seiner Lektüren antiker und mittelalterlicher Texte einbringt, die Erinnerung an Gehörtes bewahren, wenn er in ihnen mit hoher sprachlich-stilistischer Raffinesse ein zeitüberdauerndes Panorama menschlichen Verhaltens entwirft, für dessen Unvorhersehbarkeit immer wieder die Göttin Fortuna sorgt. Das Meisterwerk fand rasch Verbreitung, zuerst bei bürgerlichen Lesern, dann durch Petrarcas Übersetzung der letzten Novelle ins Lateinische auch bei den literarischen Feingeistern, den Humanisten. Es wirkte in alle europäischen Literaturen, in alle Künste hinein bis in unsere Zeit.
 
Die Novelle in ihrer hohen künstlerischen Form ist also Boccaccio zu verdanken. Zugleich aber vollendete der Italiener spätantike und mittelalterliche Traditionen des anekdotisch-belehrenden Erzählens, wie sie etwa das älteste Novellenbuch des Mittelalters, die »Disciplina clericalis« (»Die Kunst, vernünftig zu leben«) des Petrus Alfonsi, oder die große Zahl erzählerischer Kleinformen vor dem »Decamerone« in Italien darstellen, und erfüllte sie mit dem sinnlichen und autoritätenkritischen Geist der erwachenden Renaissance, den seine Nachahmer oft nur unvollkommen erfassen konnten oder wollten. In Frankreich zum Beispiel wurde Boccaccios Werk durch die Übersetzung des Frühhumanisten Laurent de Premierfait von 1414 bekannt. Er fertigte sie nach einer lateinischen Version des Franziskaners Antonio d'Arezzo für den kunstsinnigen Herzog von Berry an. Diese Fassung, die die Vorlage weder stilistisch noch inhaltlich erreichte, verfolgte vorwiegend moralische und pädagogische Absichten.
 
In französischer Sprache entstanden zwischen 1456 und 1467 die »Cent nouvelles nouvelles« eines anonymen Verfassers, der zwar moralische Absichten vorgibt; aber die nicht mehr auf mündlicher Überlieferung, sondern auf ausgedehnten Lektüren beruhenden Geschichten sind bis auf wenige Ausnahmen unverstellt lüstern und waren wohl ausschließlich für männliche Zuhörer oder Leser bestimmt. Aus dem Titel der Sammlung wird deutlich, wie der Autor sich einerseits an Boccaccio in der Hundertzahl anlehnt, sich aber andererseits von ihm abgrenzt, wenn er von »neuen Novellen« spricht, das heißt Kurzerzählungen, die Ereignisse allein aus jüngster Zeit und nicht wie bei dem Florentiner auch aus der Geschichte festhalten.
 
Knapp hundert Jahre später wurde das »Heptaméron« der Königin Margarete von Navarra veröffentlicht. Sie kannte Boccaccio, den sie auch erneut übersetzen ließ, sie kannte die »Cent nouvelles nouvelles« und hochmittelalterliche Erzählungen. Auch sie gab ihrer Novellensammlung einen Rahmen: Zehn Personen, jeweils fünf adlige Damen und Herren, fliehen vor einem Unwetter in ein Kloster in den Pyrenäen; während der erzwungenen Reiseunterbrechung trägt jeder von ihnen eine Geschichte vor - von den 100 geplanten sind 72 vollendet, da Margarete vor Abschluss des Werkes starb. Während ihre Vorgänger immer behaupteten, unterhalten und belehren zu wollen, wenn es ihnen eigentlich nur um Unterhaltung ging, machte die Königin von Navarra es genau umgekehrt. Ein Zeitvertreib seien ihre Novellen, nur geschrieben, um in der kleinen Gesellschaft keine Langeweile aufkommen zu lassen. In Wirklichkeit aber wollte sie moralisch unterweisen, ihre christlich-neuplatonische Liebesvorstellung propagieren und zugleich durch den grundlegenden Dialogcharakter ihres Werkes unterschiedlichste Liebesauffassungen zu Wort kommen lassen. Anders als die »Brigata« Boccaccios, deren Urteile über die einzelnen Erzählungen immer einhellig ausfällt, reagiert Margaretes Gruppe häufig dissonant - vielleicht ein Hinweis auf die sozialen, kulturellen und religiösen Brüche, die ihre Zeit kennzeichnen und Ausdruck ihrer Hoffnung, sie friedlich, im Gespräch zu bewältigen.
 
Miguel de Cervantes Saavedra gaukelte der strengen kirchlichen Zensur eine rechtgläubige Beispielhaftigkeit seiner »Exemplarischen Novellen« von 1613 vor, die die Erzählungen nicht liefern. Dafür aber bestätigen deren Titel zumindest teilweise die selbstbewusste Äußerung des Dichters im Prolog, er habe eigene, originäre Novellen geschaffen. Er hat zwar auch eher herkömmliche, von Boccaccios italienischen Nachfolgern und den Ritterromanen geprägte Liebesnovellen in seiner Sammlung - solche, die nach einer Reihe von Irrungen und Wirrungen glücklich enden -, aber er schuf auch Texte, deren Abweichungen von der bisherigen Novellentradition nur aus den historisch-gesellschaftlichen Gegebenheiten zu seinen Lebzeiten und aus seinen eigenen biographischen Erfahrungen heraus erklärbar sind. Die Sonderstellung seiner oft und nicht nur in Spanien nachgeahmten Geschichten zeigt zugleich auch, wie wandlungsfähig diese kleine Erzählgattung in der Vergangenheit war - eine Wandlungsfähigkeit, die sie bis in unsere Zeit bewahrt hat.
 
Prof. Dr. Wolf-Dieter Lange
 
 
Hardt, Manfred: Geschichte der italienischen Literatur. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Düsseldorf u. a. 1996.

Universal-Lexikon. 2012.

Игры ⚽ Нужна курсовая?

Schlagen Sie auch in anderen Wörterbüchern nach:

  • Novelle — Erzählung in Prosaform; Änderungsgesetz * * * No|vel|le1 〈[ vɛ̣l ] f. 19; Pol.〉 ergänzender od. ändernder Nachtrag zu einem Gesetz [<lat. novella „neu(erlassenes Gesetz)“] No|vel|le2 〈[ vɛ̣l ] f. 19; Lit.〉 von einem einzelnen, ungewöhnl.… …   Universal-Lexikon

  • Novelle — Eine Novelle (lat. novus ‚neu‘; ital. novella ‚Neuigkeit‘) ist eine kürzere Erzählung (siehe auch Kurzepik) in Prosaform. Als Gattung lässt sie sich nur schwer definieren und oft nur in Bezug auf andere Literaturarten abgrenzen. Hinsichtlich des… …   Deutsch Wikipedia

  • Novelle (Literatur) — Eine Novelle (lat. novus neu; ital. novella Neuigkeit) ist eine kürzere Erzählung (siehe auch Kurzepik) in Prosaform. Als Gattung lässt sie sich nur schwer definieren und oft nur in Bezug auf andere Literaturarten abgrenzen. Hinsichtlich des… …   Deutsch Wikipedia

  • Boccaccio (Hesse) — Andrea del Castagno (um 1450): Giovanni Boccaccio Boccaccio ist eine Biographie von Hermann Hesse, die im April 1904 [1] bei Schuster Loeffler in Berlin erschien[2] …   Deutsch Wikipedia

  • Die Philosophie der Erlösung — Philipp Mainländer Philipp Mainländer (* 5. Oktober 1841 in Offenbach am Main; † 1. April 1876 in Offenbach am Main) war ein deutscher Dichter und Philosoph. Geboren als Philipp Batz, änderte er seinen Namen später aus Verehrung für seine… …   Deutsch Wikipedia

  • Novelle — Novelle. Dieser Modeartikel unserer jetzigen schöngeistigen Literatur hat in seiner Wesenheit längst die Grenzen überschritten, die ihm bei seinem ersten Auftreten angewiesen waren. Etwas Neues, Ueberraschendes, aus der jüngsten Vergangenheit… …   Damen Conversations Lexikon

  • Novelle — (ital. novella, »Neuigkeit«) ist diejenige Gattung der Epischen Dichtung (s. d.), die eine einzelne Begebenheit von entscheidender innerer und äußerer Bedeutung (fast stets in der Form der Prosa) zur Darstellung bringt. Durch die in der Regel… …   Meyers Großes Konversations-Lexikon

  • Novelle [2] — Novelle (ital.) ursprünglich eine leicht und anmutig erzählte, mit dem Reiz der Neuheit ausgestattete Begebenheit (Meister darin Boccaccio); jetzt eine kleinere prosaische Erzählung, die sich, im Gegensatz zum Roman, der ein umfassendes Zeit und… …   Kleines Konversations-Lexikon

  • Romeo und Julia (Stoff) — Die Vorbilder Pyramus und Thisbe, dargestellt von Niklaus Manuel 1513/14 Romeo und Julia sind eines der bekanntesten (unglücklichen) Liebespaare der Kulturgeschichte. Inhaltsverzeichnis …   Deutsch Wikipedia

  • Giovanni Boccaccio — (* 1313 in Florenz oder Certaldo; † 21. Dezember 1375 in Certaldo bei Florenz) war ein italienischer Schriftsteller, Demokrat, Dichter und bedeutender Vertreter des Humanismus. Sein Meisterwerk, das Decamerone, porträtiert mit bis dahin… …   Deutsch Wikipedia

Share the article and excerpts

Direct link
Do a right-click on the link above
and select “Copy Link”